
In Brüssel ist jeden Tag Flohmarkt. Hier lernt man die Stadt von allen Seiten kennen. Eine Expedition in den Marollen.
In den Morgenstunden wird auf Brüssels Place du Jeu de Balle ein Schauspiel aufgeführt. Noch lungert die Nacht in den Gassen. Der orangefarbene Schein der Straßenlaternen dringt in die Ritzen des Kopfsteinpflasters. Männer in Lederjacken und Jeans stehen zwischen Lkw. In sich gekehrt. Rauchend. Dann beginnt der erste Akt. Einer trägt einen barocken Stuhl heran. Stellt ihn auf dem Pflaster ab. Geht zurück zu seinem Transporter. Nimmt ein Ölgemälde heraus. Lehnt es an den Stuhl. Holt eine Stehlampe. Ein ganzes Wohnzimmer richtet er so unter dem schwarzen Himmel ein.
Überall auf der Place du Jeu de Balle im Arbeiterviertel Marollen, wird nun in konzentrierter Ruhe arrangiert. Werden Kartons voller Zeitschriften und Jazzplatten auf den Boden gewuchtet, nach Naphthalin und Flieder duftende Hügel aus Pelzen aufgeschichtet. Nur das Klappern von Geschirr und von rückenden Stuhlbeinen ist zu hören. Diese Geräusche sind alles, was an das frühere Leben all dieser Hocker und Kristallgläser erinnert. Die einstigen Besitzer haben sie aussortiert, nun warten die Dinge darauf, dass jemand sie entdeckt.
Der Flohmarkt auf der Place du Jeu de Balle, niederländisch: Vossenplein, gehört seit 1873 zu Brüssels täglicher Routine. Selbst im flohmarktverrückten Belgien ist er damit eine Besonderheit – ein liederliches Wahrzeichen, auf das die Brüsseler so stolz sind wie auf ihre goldgeschmückte Grande Place. In seiner heutigen Gestalt ist er die Folge einer schweren Wirtschaftskrise.
Brüssel war eine der reichsten Städte Europas, bis sich nach der Unabhängigkeit des Kongo 1960 kein Gold und kein Kautschuk mehr aus Übersee pressen ließen. Als in den siebziger Jahren auch noch die belgische Stahlindustrie erlahmte, stiegen die Belgier kollektiv auf ihre Dachböden. Seither landet alles, was nicht mehr gebraucht wird, auf dem Flohmarkt: Dinge, die wirklich wertvoll sind, neben solchen, die nur so aussehen, Kunst, Kitsch und heimatlos gewordener Kram aus den verschiedenen Milieus und Kulturkreisen, die sich in dieser schichtenreichen Stadt übereinanderlegen.
Im Dämmerlicht entdecke ich goldgerahmte Stillleben, Schnitzereien aus Ruanda oder dem Kongo, Tapisserien. Sie könnten aus dem Besitz marokkanischer Einwanderer stammen oder aus den ländlichen Adelshäusern, deren barock-lädiertes Interieur so erfolgreich von der belgischen Einrichtungsfirma Flamant kopiert wird. Das Licht einer Taschenlampe streift meine Füße. Ein Antiquitätenhändler auf der Jagd. Er leuchtet in die Kartons auf der Ladefläche eines Transporters. Wechselt ein paar Worte mit dem Fahrer. Kurz überlege ich, mich an seine Fersen zu heften. Vielleicht finde ich in seinem Schlepptau, was alle Flohmarktbesucher suchen: tolle Sachen für wenig Geld, umweht von der Aura des Einzigartigen. Doch dann entdecke ich an der nächsten Ecke eine Kneipe, die schon geöffnet hat, und beschließe, dort zu warten, bis es hell ist. Im Halbdunkel in Kisten zu wühlen ist nur was für Profis.
Im La Brocante riecht es nach Frittiertem und abgestandenem Geuze-Bier. Aber Yves Raymaekers, der Wirt, serviert meinen Kaffee mit einem Lächeln, um das ihn der Weihnachtsmann beneiden würde. Ich bin der einzige Gast und Raymaekers hat Zeit für ein Gespräch. Er ist im Kongo geboren, fünf Jahre bevor sich Belgien aus der Kolonie zurückzog. Kurz darauf wagte seine Mutter mit ihm den Neubeginn in Europa. „Die Marollen gehören den zinnekes“, sagt er. Brüsseler Dialekt für Multikulti. Früher habe es rund um den Flohmarkt über 150 Kneipen gegeben. Die Menschen kamen zum Trinken und oft auch zum Schlafen. Bis in die siebziger Jahre waren in manchen Lokalen Seile gespannt. Gäste ohne Schlafplatz konnten daran träumend abhängen, bis am Morgen die Putzfrau kam. Doch das am nördlichen Ende der Innenstadt gelegene Viertel wandele sich. „Wenn heute eine Kneipe zumacht, zieht ein Antiquitätenladen ein.“ Die Brüsseler Art der Gentrifizierung. In Berlin ist es genau andersherum.
Als ich vor die Tür trete, ist es schon hell – und ich bekomme die ersten Tropfen ab. Binnen Minuten treibt der Wind den Regen in kniehohen Wellen über das Pflaster. Meine Jeans klebt am Bein, die Schuhe fühlen sich an wie durchweichte Bierdeckel. Ich flüchte mich in die Rue Blaes, die am La Brocante vorbei nach Süden führt. Hier spürt man den Wind nicht so. In den Schaufenstern leuchten Bogenlampen und Kandelaber. Statuen griechischer Göttinnen wachen über römische Münzen und die Totenschädel afrikanischer Krieger. Mit jedem Schritt Richtung Sablon, dem Stadtteil südlich des königlichen Viertels, werden die Jahreszahlen auf den Schildchen niedriger, die Preise höher. Die Designerin Olga Polizzi, die für die Einrichtung der Luxushotels ihres Bruders Rocco Forte zuständig ist, kauft hier ein. Für sie sind das Schnäppchen. Nirgends, sagt sie in Interviews, könne man so günstige Antiquitäten finden wie in Brüssel.
Viele Dinge, die in den schicken Läden als „belgian style“ verkauft und in alle Welt verschifft werden, stammen vom Flohmarkt, wo findige Händler sie aus dem Trödel gefischt haben. Yves Raymaekers hat erzählt, dass dort vor Jahren mal ein Hocker aus dem Kongo aufgetaucht sei. Der Stuhl eines Hexendoktors, einer von acht auf der ganzen Welt. 200.000 Euro soll der Käufer gezahlt haben.
Der Regen lässt nach, ich versuche mein Glück an der Ostseite des Flohmarktes, wo eine prächtige backsteinerne Feuerwehrkaserne den Platz begrenzt. Scherben knirschen unter meinen Füßen. Der Wind weht die Seiten einer Modezeitschrift vorbei. Ein Barbieauto ist unter einem der Bäume geparkt, die den Platz rahmen. Auf dem Boden haben Händler Haushaltswaren zu Mosaiken arrangiert. Eine Badegesellschaft aus Porzellanschönheiten in geringelten Badeanzügen ist auf einem Tisch versammelt.
Die meisten Verkäufer sind heute Nordafrikaner. Die beiden blonden Frauen mit dem Tisch voller Kleinigkeiten aus Glas und Porzellan stechen gleich ins Auge. Anne Andre, die ältere, sagt über ihre Kollegen: „Wenn die hier anfangen, haben sie keine Ahnung. Aber die Söhne lernen dazu und versuchen, mit besserer Qualität höhere Preise zu erzielen.“ Die Brüsseler Art der Assimilation. Vom Ramsch- zum Antiquitätenhändler.
Anne Andre kommt seit 40 Jahren auf die Place du Jeu de Balle. Früher mit ihrem Mann, heute mit ihrer Tochter. Vor 20 Jahren seien die Waren ausgesuchter gewesen. „Heute verkaufen die Leute ihre interessanten Sachen oft bei eBay.“ Händlern, die wie sie von Haushaltsauflösungen leben, habe das Internet die Arbeit kompliziert gemacht.
Ich streife weiter. Als ich unter einem Faltpavillon zwischen Ritterhelmen und Silbermünzen einen gedrechselten weißen Speer entdecke, ist es fast Mittag. Die Oberfläche des Speers ist glatt und hart wie Elfenbein. Aber welcher Elefant hat so lange, gerade Stoßzähne? Irgendwo habe ich so ein Ding schon mal gesehen. Ach ja! In Märchenbüchern. Ob man für Einhornhörner eine Einfuhrerlaubnis braucht? Ich würde den Verkäufer gern fragen, aber der ist nirgends zu sehen.
Ab 12 Uhr beginnen die Händler einzupacken. Bis um 14 Uhr muss der Platz geräumt sein. Kurz bevor die Kehrmaschinen der Stadtreinigung anrollen, kommen die kajoebereir. Menschen, die sich nicht mal die Flohmarktpreise leisten können. Sie picken die Reste von den am Boden ausgebreiteten Decken. Die Händler lassen sie gewähren. Hauptsache, das Zeug kommt weg. Dabei ist längst nicht alles Müll, was danach aussieht. Eine Dame von der Marktaufsicht berichtet von einem Mann aus der Elfenbeinküste, der nach Marktschluss Bruchstücke von Thonet-Stühlen einsammelt. Daraus setzt er wieder Stühle zusammen und verkauft diese in seinem Geschäft. Recycling auf die Brüsseler Art.
Am nächsten Tag halte ich nach dem Einhorn-Stand Ausschau. Aber der ist nicht mehr da. Von den 400 Standplätzen auf der Place du Jeu de Balle sind nur 250 fest vermietet. Die restlichen werden in den Morgenstunden der Reihe nach an Interessenten vergeben. Deswegen gibt es jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Der ehemalige Leiter der Brüsseler Kunsthochschule soll über Jahre jeden Morgen vor Schulbeginn hergekommen sein. Er stöberte nur so lange, bis er eine Kleinigkeit für seine Design-Sammlung gefunden hatte.
Auch mir begegnet einiges, das ich sofort haben will: die Schiefertafel mit ihrem massiven Holzrahmen. Die grünlichen Metallkästen aus Industriebestand. Der dänische Kirschholzschreibtisch. In Öl festgehaltene Straßenszenen (vor einigen Jahren wurde hier ein Gemälde von Maurice Utrillo gefunden). Oder der ausgestopfte Greifvogel, der aus einem Karton ragt. So einen habe ich gestern in einem Antiquitätenläden gesehen – für den zwanzigfachen Preis. Leider bin ich ohne Lieferwagen angereist.
Mit zwei – hoffentlich echten – Vasen von Aldo Londi in Rimini Blu (zusammen 50 Euro) und einer mutig gebogenen Schreibtischlampe aus Bakelit (25 Euro) in der Tasche kehre ich ins La Brocante ein, um mich an einer Tasse Schokolade zu wärmen. Stolz zeige ich Yves Raymaekers meine Beute. Ob er selbst auch manchmal etwas vom Flohmarkt heimträgt? „Ständig. Zuletzt habe ich meinem Schwiegersohn ein riesiges Poster von Michael Jackson mitgebracht“, sagt er. „Und gestern habe ich einen Schatz gesehen. Das Horn eines tandwalvis. Früher hätte man das gegen ein ganzes Schloss eintauschen können.“ Meint er etwa das Einhornhorn?
Er lacht, holt einen Zettel und malt ein Tier darauf: einen gehörnten Wal. Einen Narwal, wie die Suchanfrage in meinem Handy ergibt. Der ist fast so selten wie ein Einhorn und steht unter Artenschutz. „Der Stoßzahn könnte den Händler einige Tausend Euro reicher machen“, sagt Raymaekers. „Oder ihn ins Gefängnis bringen. Die Marollen sind wie das Fegefeuer. Himmel und Hölle liegen nur einen Schritt voneinander entfernt.“
Ich nehme meine Vasen und frage mich auf dem Rückweg, ob der Einhornhändler inzwischen ein gemachter Mann ist oder auf der Flucht.